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Aster
Musical flowers from the Autumn of the Middle Ages
Der „Herbst des Mittelalters“ ist eine Bezeichnung des niederländischen Historikers Johan Huizinga für das 14. und 15. Jahrhundert. Aus der gleichen Zeit stammt auch der musikalische Begriff flos (lateinisch „Blume“) oder floridus, als Bezeichnung für die Verzierungen einer melodischen Linie. Hierbei wird eine Note umspielt und deren ursprünglicher Notenwert in kleinere Notenwerte aufgebrochen, die Melodie wird gleichsam mit musikalischen Blumen umrankt.
Diese Verzierungen finden eine besondere Blüte in den Intavolierungen des Codex Faenza, einer vielfältigen Sammlung von Arrangements vokaler Werke für Tasteninstrument. Dieses Manuskript entstand um 1420 in Norditalien und beinhaltet Intavolierungen damals bekannter Werke wie z.B. De tout flors von Guillaume de Machaut, aber auch Arrangements von Tanzsätzen wie beispielsweise Bel fiore dança. Auch im Lochamer Liederbuch, welches zwischen 1452 und 1460 in Nürnberg entstand, sind einige Intavolierungen überliefert (wie z.B. Mit ganczem Willen wünsch ich dir), deren ursprüngliche Melodien mit musikalischen Blumen umspielt werden.
Diesen Intavolierungen stellt das Ensemble quidni eine Auswahl an Tanzsätzen des 15. Jahrhunderts gegenüber, die von Tanzmeistern wie Giovanni Ambrogio oder Domenico da Piacenza in ihren Traktaten mitsamt Choreografien festgehalten wurden. Von diesen Stücken ist nur eine einstimmige Melodie (der Tenor) überliefert, man kann aber davon ausgehen, dass damals ein Kontrapunkt dazu improvisiert wurde und diese auch mehrstimmig aufgeführt wurden.
Die beiden Musiker des Ensembles quidni nähern sich dieser Musik aus der Sicht mittelalterlicher Spielleute mit einer guten Portion Spiel- und Improvisationsfreude. Sie arrangieren dieses Repertoire passend für ihr abwechslungsreiches Instrumentarium an Lauten- und Holzblasinstrumenten, und zeigen so die Vielfalt der späten Blüte mittelalterlicher Instrumentalmusik.
quidni ist der Ensemblename für Projekte unter der Leitung von Silke Gwendolyn Schulze. Getreu der lateinischen Übersetzung des Ensemblenamens – „warum nicht?“ - bewegt sich das Ensemble frei und neugierig, aber stil- und selbstsicher in unterschiedlichen Besetzungen innerhalb der Alten Musik: von der mittelalterlichen Musik der ménestrel über das Repertoire der Stadtpfeifer der Renaissance bis hin zur Kammermusik des Früh- und Hochbarock. Für das Programm Aster: Musikalische Blumen aus dem Herbst des Mittelalters trifft Silke Gwendolyn Schulze auf den italienischen Lautenvirtuosen Peppe Frana. Mit ihrem abwechslungsreichen Instrumentarium zeichnen die beiden ein vielseitiges Bild der unterschiedlichen Klänge mittelalterlicher Instrumente, sie arrangieren, improvisieren und erfinden neue Stimmen und lassen so die Klangwelt des frühen 15. Jahrhunderts wiederaufleben.
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DAS MUSIKALISCHE LABYRINTH
Virtuosität in mittelalterlicher Instrumentalmusik
Peppe Frana, Mittelalterlaute, Quinterne
Silke Gwendolyn Schulze, Doppelflöte, Douçaine, Einhandflöte & Trommel, Schalmei
Die beiden Manuskripte Paris fr. 844 (Manuscrit du Roi) und London 29987 sind unter Mittelalter-Musikern sehr bekannt, denn sie enthalten die berühmten estampies und istanpitte. Diese einstimmigen Stücke gelten als die früheste überlieferte Instrumentalmusik und folgen alle der gleichen Form: verschiedene puncti münden immer in dieselben offenen und geschlossenen Endungen. Während die französischen estampies aus dem Manuscrit du Roi bei dieser einfachen, klaren Struktur bleiben, sind die in Italien entstandenen istanpitte aus dem Manuskript London 29987 komplexer gestaltet: die puncti sind länger und unregelmässiger, greifen manchmal ineinander oder springen von einem punctus in den vorherigen zurück. Ausserdem gibt es unterschiedliche und längere Endungen. Die Melodien dieser Instrumentalstücke bestehen aus kleinen melodischen Formeln oder patterns, die sich häufig wiederholen und verändern. Der Pariser Musikgelehrte Johannes de Grocheio beschreibt um 1300, dass die estampie aufgrund ihrer Schwierigkeit vollends den Geist der Spieler wie der Zuhörer einnehme und so die Reichen von bösen Gedanken abbringe.
Wegen ihrer komplexen Form kann man die musikalische Gattung der estampie/istanpitta auch mit einem musikalischen Labyrinth vergleichen. Die Schwierigkeit für die Musiker liegt darin, innerhalb des Estampie-Labyrinths nicht die Orientierung zu verlieren und an den verschiedenen Kreuzungspunkten stets die richtige Abzweigung zu nehmen. Dabei sollte man sich von den melodischen Formeln nicht in die Irre führen lassen, wenn sie an manchen Stellen anders als zuvor weitergehen.
Gleichwie ein Held verschiedene Tugenden wie Mut, Tapferkeit und Ausdauer benötigt, um ein Labyrinth zu durchdringen, braucht ein Musiker zur Ausführung einer estampie eine bestimmte Tugend: die Virtuosität. Die Virtuosität (von lateinisch virtus, "Tugend") ist nicht nur die meisterhafte Beherrschung des Instruments, sondern auch eine mentale Kunstfertigkeit, die sich vor allem im auswendigen Vortrag zeigt. Um den Weg durch das Labyrinth zu erinnern und den unterschiedlichen Fortführungen der Formeln richtig folgen zu können, ist viel Konzentration nötig. Dadurch zeigt sich die wahre Virtuosität, die das Spiel mit der Form und der Formel erst möglich macht.
Peppe Frana und Silke Gwendolyn Schulze haben eine Auswahl dieser musikalischen Labyrinthe für mittelalterliche Lauteninstrumente und verschiedene mittelalterliche Holzblasinstrumente arrangiert. Sie setzen dafür ihre profunden Kenntnisse mittelalterlicher Musik ein, die sie an verschiedenen renommierten europäischen Hochschulen erworben haben, aber lassen sich gleichzeitig auch von einer guten Portion spielmännischer Intuition und Spielfreude leiten. Beide beherrschen virtuos ihre Instrumente und treffen in den einstimmigen Linien und den unisonen Rhythmen präzise aufeinander. Gemeinsam erforschen sie die verschiedenen Klang- und Kombinationsmöglichkeiten ihrer Instrumente und bringen anspruchsvolle und abwechslungsreiche Klangerlebnisse hervor, sodass diese über 600 Jahre alte Musik in ihrer Virtuosität so neu und lebendig erklingt, als wäre sie gestern erst geschrieben worden.
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